Rechtsanwältin Isabel Blumberger
Solidarität - sich über die zurückerlangten Freiheiten der anderen zu freuen oder sie jedenfalls zu akzeptieren, auch wenn man selbst noch etwas länger warten muss?
Solidarität - auch Geimpfte weiterhin den für sie sinnlos gewordenen Vorgaben zu unterwerfen, zumal ihrem Freiheitsverlust kein Freiheitsgewinn der Noch-nicht-Geimpften gegenübersteht?
Der Umgang mit Grundrechten während der Pandemie, ein schwieriges Thema.
Die am 09. Mai 2021 in Kraft getretene COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung sieht Ausnahmen und Erleichterungen für Geimpfte und von der COVID-19-Erkrankung genesene Menschen vor. Bestimmte Einschränkungen, die das Infektionsschutzgesetz zur Eindämmung der Pandemie vorsieht, gelten für sie nicht mehr. Dazu gehören etwa Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen. Ebenso soll es Ausnahmen von Quarantänepflichten geben.
Wieso wurde – trotz der Kritik von Verfassungsrechtlern – so lange gewartet, um Geimpften tatsächlich "ihre Rechte zurückzugeben"?
Corona-Beschränkungen für bereits vollständig geimpfte Menschen können grundsätzlich nicht mehr gerechtfertigt werden, wenn Geimpfte kaum noch infektiös sind. Wenn also feststeht, dass eine Impfung nicht nur vor einer Erkrankung schützt, sondern auch die weitere Übertragung des Virus verhindern kann, muss das bei den Maßnahmen berücksichtigt werden. Das ist kein Privileg für Geimpfte, sondern ein Gebot der Verfassung. Auch wenn die bisherigen Maßnahmen richtig und notwendig gewesen waren, um das Pandemiegeschehen in den Griff zu bekommen, ist die Aufhebung von Schutzmaßnahmen verfassungsrechtlich zwingend. Denn es gibt für Beschränkungen keinen Raum mehr, wenn Selbst- und Fremdgefährdungen wissenschaftlich nahezu ausgeschlossen sind. Eingriffe in die Grundrechte von Menschen bedürfen einer Legitimation, die fehlt, wenn keine Ansteckungsgefahr mehr besteht.
Vor diesem Hintergrund lässt sich auch nicht die Debatte aufrechterhalten, dass vollständig Geimpfte gleich zu behandeln sind wie nicht Geimpfte. Eigentlich ist zu bedauern, dass statt Freude über Impffortschritte Neid- und Grundsatzdebatten geführt wurden. Die damit einhergehende Sorge, eine "Zweiklassengesellschaft" zu schaffen und gesellschaftliche Spannungen hervorzurufen, darf nun nicht mehr dazu führen, das vollständig Geimpfte weiter in ihren Grundrechten eingeschränkt werden. Über den Wegfall von Corona-Maßnahmen für vollständig Geimpfte ist aus verfassungsrechtlichen Gründen folglich nicht zu verhandeln.
Das Spannungsfeld zwischen den Grundrechten der sogenannten „privilegierten“ Einzelnen und der „Solidargemeinschaft“, hat sich zumindest ein stückweit durch die Aufhebung der Impfpriorisierung gelöst. Es ist inzwischen jeder Person freigestellt, welcher „Klasse“ er oder sie angehören möchte. Damit würde sich die Frage nach der Solidarität dem Grunde nach gar nicht mehr stellen.
Doch wie steht es aktuell um die Akzeptanz der Schutzimpfung? Die Impfbereitschaft in Deutschland entscheidet darüber, ob und wann wir die Herdenimmunität erreichen.
Wie sieht es also mit der Solidarität aus, sich impfen zu lassen?